1. Mai 1957

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Aleksandra saß müde vor einem Blatt Papier, das auf ihrem Schreibtisch lag. Ihre Schuhe hatte sie ausgezogen. Was sollte sie in den Bericht über den heutigen Tag schreiben? Sie blickte auf das zur Hälfte beschriebene Blatt, das das Datum des gestrigen Tages trug. Was war ihr an dem seltsamen Gast aufgefallen? Er hatte sein Gepäck selber getragen und nicht darauf gewartet, dass es ihm von einem der Bahnangestellten nachgebracht würde. Oder hatte er nur Angst, dass es durchsucht würde? Oder wollte er nicht, dass sie als Gastgeberin ihm das Gepäck trug, nur weil sie eine Frau war?

Dieser Mann war schwer einzuschätzen. Auch sein Umgang mit dem Dolmetscher war interessant. Natürlich kannte Aleksandra auch Schachlikows Berichte über die erste Begegnung in Prag und die gesamte Fahrt, selbst über das lockere Kartenspiel und die beindruckten Kommentare über die Breitspurbahnwaggons. Entweder war dieser Mann ein Ausbund an Bescheidenheit und Freundlichkeit, oder er war ein extrem gerissener Agent, der hinter einer Fassade von Naivität seinen Auftrag zur Informationsbeschaffung verfolgte. 

Doch seine Verwunderung über seine Unterkunft konnte doch nicht gespielt gewesen sein. Aleksandra hatte ihm die Suite im Hotel Moskwa gezeigt, von der sie zugegebenermaßen selbst beeindruckt war: ein geräumiges Empfangszimmer mit Garderobe, ein Esszimmer, ein Arbeitszimmer mit Schreibmaschine und einer kleinen Auswahl deutschsprachiger Bücher, die man schnell von der Thüringischen Botschaft hatte besorgen lassen, ein großes Schlafzimmer und ein modern ausgestattetes Bad. Eine verschließbare Tür führte über einen kleinen Gang zu der Unterkunft Schachlikows, die aus einem Arbeits- und einem Schlafzimmer sowie einem kleinen Bad bestand. 

Natürlich war diese Unterbringung nicht aus Wertschätzung so gewählt worden. General Schelepin hatte zugestimmt, dass es fürs Erste besser sei, wenn Johann seine Mahlzeiten in seinem Zimmer einnähme. Sollte er dort auch arbeiten, was zumindest zum Schein notwendig war, müsste es ein Arbeitszimmer geben. Und dass jederzeit eine Überwachung durch Schachlikow sichergestellt war, ergab sich von selbst. Spätestens, wenn Johann versuchte, die Türe seines Appartements zu öffnen, würde er feststellen, dass das nicht ging. Selbst der Versuch zu telephonieren würde auf Schachlikows Apparat umgeleitet werden. 

Die Erklärung, dass all das zu seinem Schutz geschähe, nahm der Priester ziemlich gelassen auf. Zu gelassen? War er darauf vorbereitet, sich selbst aus der Wohnung zu befreien? Nun ja, seine Reaktion auf die Unterbringung war zuerst echtes Erstaunen über die Größe und Großzügigkeit der Räume. Als Aleksandras Führung beendet war, hatte er ihr ein besonderes Kompliment für die geschmackvollen Wanderdekorationen ausgesprochen, die auf Schwarz-Weiß-Photographien zeitgenössische sowjetische Architektur zeigten. Hatte es ihm wirklich gefallen, oder versuchte er, durch diese geschickte Äußerung das Vertrauen einer Architektin zu gewinnen? 

Aleksandra trank einen Schluck von ihrem Tee, der langsam kalt wurde, und notierte mit genauen Zeitangaben einfach den Ablauf des heutigen Tages: Das gemeinsame Mittagessen und die Bootsrundfahrt, der Spaziergang, bei dem sie auch an mehreren Paraden vorbeikamen, zuletzt das große Feuerwerk um 21h00. Sie waren so vertieft in das Gespräch gewesen, dass sie das Abendessen völlig vergessen hatten. Er hatte Fragen zur Stadtgeschichte gestellt, zur Architektur der russischen Kirchen und der Kremlanlage, über die Idee, ein Fest der Arbeit zu veranstalten und über viele andere Dinge, die ihn ernsthaft zu interessieren schienen; und die zugleich sicherheitstechnisch völlig irrelevant waren. 

Aleksandra schloss ihren Bericht mit: „Ist entweder ein guter Spion oder trotz seines Amtes ein guter Mensch, weitere Beobachtungen nötig.“

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