Teil 1: Aufwärmphase - Kapitel 1

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Hoffnung unter den Ruinen

 

27. Mai 2113 – Planet: Erde

Die ersten Strahlen der Morgensonne kämpften sich durch die schmutzigen, rissigen Fenster des Waisenhauses Wei, das einst ein strahlender Leuchtturm des Erfolgs und der Bildung gewesen war. Früher hatte es die Nachkommen der einflussreichsten Familien der Erde beherbergt, doch diese glorreichen Tage lagen weit zurück, verloren in den düsteren Schatten eines verheerenden Krieges, der die Welt in eine unbarmherzige Umarmung der Dunkelheit gezogen hatte. Die einst prachtvollen Räume des Waisenhauses waren nun nichts weiter als Relikte einer vergangenen Ära, von tiefen Rissen durchzogen, während große Fetzen der einst strahlenden Farbe von den Wänden abblätterten. Die hölzernen Fensterläden, die einst den herrlichen Blick auf gepflegte Gärten freigaben, waren spröde und morsch geworden, Zeugen des unaufhaltsamen Verfalls.

Kai Sterling saß auf seinem schmalen Bett, das in einem der kargen Zimmer des Waisenhauses stand. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, als wolle er das trostlose Bild in sich aufnehmen und in Erinnerung behalten. Sein Zimmergenosse, ein seltsamer, wortkarger Junge, der stets in seine eigenen Gedanken vertieft war, hatte das Zimmer längst verlassen, und Kai war allein. Diese Einsamkeit war ihm jedoch mehr als willkommen. Sie bot ihm die kostbare Gelegenheit, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen – Gedanken, die ihn weit forttrugen von der tristen Realität, die ihn umgab.

Die Welt, in der Kai lebte, war eine andere als die, von der in den alten Geschichtsbüchern erzählt wurde. Die Erde war durch den großen Krieg, der vor vielen Jahren wütete, tief in ihren Grundfesten erschüttert worden. Die einst pulsierenden Städte, lebendige Zentren menschlicher Aktivität, lagen nun in Ruinen, und das Waisenhaus Wei war nur noch ein Schatten seiner selbst. Die Kinder, die jetzt hier lebten, waren keine Nachkommen reicher Familien mehr; sie waren die Waisen einer zerstörten Gesellschaft, gestrandet in einer Welt, die sie längst vergessen hatte.

Kai war ein Außenseiter, ein Einzelgänger, seit er denken konnte. Über seine Eltern wusste er nichts, und die Wahrheit darüber, warum er in diesem Waisenhaus landete, blieb ihm verborgen. Die Erzieher sprachen nie darüber, und Kai hatte es längst aufgegeben, Fragen zu stellen. In seiner Welt zählten nur noch zwei Dinge: das Überleben und der glühende Traum, der tief in seinem Inneren brannte, heller und mächtiger als alles andere.

Es war dieser Traum, der Kai jeden Morgen aus dem Bett trieb. Ein Traum, der ihn von den anderen Kindern unterschied, die ihr Leben wie Marionetten in einem trostlosen Theaterstück verbrachten. Dieser Traum war größer als das verfallene Waisenhaus, größer als die graue, zerfallene Stadt, die es umgab. Es war der Traum, ein Galaxy Racer zu werden – einer dieser furchtlosen Piloten, die mit atemberaubender Geschwindigkeit durch die unendlichen Weiten des Weltraums jagten, deren Namen in jedem Winkel der Erde bekannt waren. Doch so sehr dieser Traum Kai auch antrieb, schien er doch oft unerreichbar, so weit entfernt, dass Kai manchmal das Gefühl hatte, er würde niemals mehr sein als eine kindliche Fantasie.

Kai erhob sich langsam von seinem Bett und streckte sich, um die Müdigkeit aus seinen Gliedern zu vertreiben. Die alten Dielen unter seinen Füßen knarrten protestierend, während er sich in dem schmalen Zimmer umdrehte und einen flüchtigen Blick auf die Tür warf. Sein Herz begann schneller zu schlagen, als er daran dachte, was er heute vorhatte. Heute war ein besonderer Tag, und er wusste, dass er keine Zeit verlieren durfte.

Leise, fast schleichend, bewegte sich Kai durch das Zimmer. Er zog seine abgetragenen Schuhe an und schlüpfte in seine Jacke. Die Kapuze zog er tief ins Gesicht, um so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen. Vorsichtig öffnete er die Zimmertür einen Spalt und lauschte. Das Waisenhaus war still, bis auf das entfernte Murmeln von Stimmen und das gelegentliche Knarren des alten Gebäudes. Es schien, als würde die verfallene Struktur des Waisenhauses ihre Traurigkeit in jedem Geräusch ausdrücken.

Kai schloss die Tür leise hinter sich. Obwohl er sich sicher war, dass inzwischen genug Zeit vergangen war und alle Kinder, Lehrer und Erzieher sich in die Klassenräume begeben hatten, konnte er sich nicht sicher sein, ob nicht doch jemand nach ihm suchen würde. Vorsicht war geboten. Er verhielt sich so leise, dass es wirkte, als würde er über den Boden schweben. Seine Schritte hallten kaum wahrnehmbar auf den kalten Steinfliesen wider, während er sich durch die verfallenen Gänge des Waisenhauses bewegte.

Als er an den Fenstern der Klassenzimmer vorbeischlich, duckte er sich instinktiv. Durch ein offenstehendes Fenster vernahm Kai die monotone Stimme seines Lehrers, der wie ein mechanischer Automat mathematische Formeln an die Tafel kritzelte. Normalerweise würde auch Kai jetzt in diesem Klassenzimmer sitzen, mit müden Augen dem endlosen Vortrag folgen. Doch heute war alles anders. Heute hatte er andere Pläne.

Jeder freie Moment, den Kai hatte – und ab und an auch mal während der Unterrichtszeit –, verbrachte er damit, an seinem Hover Scooter zu arbeiten. Es war kein gewöhnlicher Roller, sondern ein technisches Meisterwerk, das er sich selbst zusammengeschustert hatte. Statt auf Rädern zu rollen, sollte es knapp über dem Boden schweben – ein Konzept, das er aus den alten, vergilbten Aufzeichnungen und Plänen entnommen hatte, die er in den verborgenen Archiven des Waisenhauses entdeckt hatte. Diese Archive waren voller verstaubter Bücher und vergessener Träume, die niemand mehr lesen wollte.

Ehemals als Spielzeug für Kinder gedacht, hatte es in dieser Welt keine Daseinsberechtigung mehr. Zumindest kam es Kai im Waisenhaus so vor, als würde Spaß in dem Leben von Kindern keinen Platz mehr haben. Doch für ihn waren sie ein wahrer Schatz. Dort, zwischen den Zeilen von zerfallenden Dokumenten, hatte er die Blaupausen für seinen eigenen Traum gefunden. Er hatte die Bilder von schwebenden Fahrzeugen studiert, jede technische Spezifikation analysiert und daraus seine eigenen Pläne geschmiedet.

Stück für Stück hatte Kai den Hover Scooter zusammengebaut. Jedes Bauteil war ein kleiner Triumph, jedes gelöste Problem ein Schritt näher an seinem Ziel. Die Teile, die er benötigte, hatte er heimlich besorgt, finanziert durch sein spärliches Taschengeld, das er mühsam zusammengespart hatte. Nächte hatte er damit verbracht, die Mechanik zu justieren, die Elektronik zu verkabeln und die Perfektion zu erreichen, die er sich vorgestellt hatte. Es war eine mühsame Arbeit, die seine ganze Geduld und seinen Einfallsreichtum forderte, aber Kai gab niemals auf. Er war fest entschlossen, seinen Traum wahr werden zu lassen.

Heute war der Tag, an dem das letzte fehlende Teil endlich ankommen sollte. Es war der entscheidende Baustein, der ihm den Weg in die Freiheit ebnen würde. Der Baustein, der seinen Hover Scooter endlich vom Boden abheben lassen würde. Doch bis es so weit war, blieb Kai nichts anderes übrig, als zu warten – und die Zeit mit dem zu verbringen, was er am besten konnte: basteln und träumen.

Der Schuppen des Hausmeisters war zu Kais geheimem Rückzugsort geworden. Es war ein unscheinbares Gebäude, kaum mehr als ein zusammengezimmertes Häuschen am Rand des Waisenhausgeländes, verborgen zwischen den verwilderten Bäumen und Sträuchern, die das Grundstück säumten. Der Schuppen war dunkel, muffig und voller Spinnweben, doch für Kai war er ein Zufluchtsort. Ein Ort, an dem er sich frei fühlte, an dem er für einen kurzen Moment die bedrückende Realität hinter sich lassen konnte.

Es hatte viel Zeit und Überzeugungskraft gekostet, doch am Ende hatte der alte Hausmeister ihm erlaubt, den Schuppen für seine Basteleien zu nutzen. Der Hausmeister war ein freundlicher, alter Mann, dessen Rente schon längst überfällig war, doch die wirtschaftliche Lage nach dem Krieg ließ ihm keine Wahl, als weiterhin zu arbeiten. Der Mann hatte viel Leid gesehen, sowohl in seinem eigenen Leben als auch bei den Kindern, die ins Waisenhaus kamen. Vielleicht war es dieser ständige Anblick von Elend, der ihn dazu bewogen hatte, Kai zu helfen – oder vielleicht war es die einfache Freude daran, einem Jungen die Möglichkeit zu geben, seinen Träumen zu folgen.

Kai verbrachte den Tag damit, seiner üblichen Routine nachzugehen. Er schwänzte – öfter, als er zugeben würde – den Unterricht. Nutzte die gewonnene Freizeit, um sich ganz seiner Arbeit im Schuppen zu widmen. Er genoss die Stille, die ihm das Basteln bot. In dieser Ruhe konnte er abschalten, die trostlose Welt draußen für einen Moment vergessen und sich ganz auf seine Arbeit konzentrieren. Die letzten Vorbereitungen für den Einbau des fehlenden Teils waren nahezu abgeschlossen. Seine Hände arbeiteten routiniert, seine blond-schwarzen Haare hingen leicht verschwitzt vor seine Augen. Seine Gedanken immer wieder zu dem Moment abschweifend, an dem er den Hover Scooter zum ersten Mal in die Lüfte heben würde.

 

Es war später Nachmittag, als Kai aus dem Schuppen trat und beschloss, nachzusehen, ob das Paket bereits angekommen war. Seine Angst, erwischt zu werden, war zu so später Stunde fast vollständig verflogen. Er steuerte durch die verfallenen Gänge des Waisenhauses, vorbei an den düsteren Klassenzimmern, in denen die Kinder noch immer der endlosen Monotonie des Unterrichts ausgesetzt waren. Seine Schritte hallten auf dem kalten Steinboden wider, während er die Treppen hinunter zum Büro des Hausmeisters lief.

Doch als er gerade um die Ecke bog, stieß er mit einem jungen Mädchen zusammen. Ihre großen Augen strahlten vor Aufregung, und sie hielt die Arme fest um einen Stapel Bücher geschlungen. „Kai,“ sagte sie atemlos, „der Hausmeister hat ein Paket für dich.“

Kais Herz begann schneller zu schlagen. „Ist es das Teil?“, fragte er mit einer Mischung aus Hoffnung und Ungeduld, doch das Mädchen zuckte nur mit den Schultern. Kaum hatten die Wörter Kais Mund verlassen, erkannte er, dass das Mädchen keine Ahnung von seinem geheimen Vorhaben hatte. Es war ein stilles Einverständnis, das nur zwischen ihm und dem Hausmeister bestand. „Er hat nur gesagt, dass es für dich ist.“

Kai dankte ihr knapp und eilte weiter. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, als er die Tür zum Büro des Hausmeisters öffnete. Der vertraute, warme Geruch nach Öl und altem Holz begrüßte ihn, und der alte Mann, der hinter seinem Schreibtisch saß, lächelte ihm zu. „Da bist du ja,“ sagte der Hausmeister mit seiner rauen, aber freundlichen Stimme. „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“

Kai schluckte, seine Hände zitterten leicht vor Aufregung, als er das Päckchen entgegennahm. „Danke,“ flüsterte er, unfähig, seine Freude zu verbergen.

Der Hausmeister nickte und sah Kai mit einem Blick an, der sowohl Wehmut als auch Stolz widerspiegelte. „Ich weiß, was das für dich bedeutet, Junge.“ Der alte Mann lehnte sich zurück und musterte Kai eindringlich. Seine Stimme nahm einen ernsten Ton an. „Pass auf dich auf da draußen, ja? Es ist eine harte Welt, aber wenn man sich an seine Träume klammert, dann… dann kann man es vielleicht schaffen.“

Kai stand einen Moment lang reglos da und blickte den Hausmeister nur an. Er hatte ihm nie von seinem Plan erzählt, doch irgendwie schien der alte Mann genau zu wissen, was Kai vorhatte. Es war, als hätte er schon von Anfang an verstanden, worauf all die heimlichen Basteleien hinausliefen. Kai nickte dankend, unfähig, die richtigen Worte zu finden, und verließ das Büro mit dem Päckchen fest in seinen Händen. Er rannte zurück zum Schuppen, wo er sich sofort daran machte, dass letzte Teil in seinen Hover Scooter einzubauen.

Das Modul, das Kai nun in den Händen hielt, war ein kleiner, aber entscheidender Baustein – ein Modul für den Photon-Warp-Antrieb, der dem Gefährt den nötigen Schub geben würde, um sich tatsächlich vorwärtszubewegen. Es war das Herzstück seines Scooters, das entscheidende Element, ohne das der Traum vom Fliegen nichts weiter als eine Illusion geblieben wäre.

Mit geschickten Fingern setzte Kai das Modul in den vorgefertigten Steckplatz ein, überprüfte die Verbindungen und justierte die Einstellungen mit der Präzision eines erfahrenen Technikers. Jede Schraube, jedes Kabel und jede Schaltung dieses Hover Scooters kannte er auswendig. Er hatte es mit Liebe und Hingabe gebaut, jeder Schritt war ein kleiner Sieg auf dem Weg zu seinem großen Ziel.

Sein Herz begann wieder schneller zu schlagen, als er den letzten Schalter umlegte. Ein leises, melodisches Summen erfüllte den Schuppen, und der Hover Scooter begann leicht zu vibrieren. Kai hielt den Atem an, als das Gefährt langsam vom Boden abhob. Es waren nur wenige Zentimeter, aber das spielte keine Rolle. Es war genug, um zu beweisen, dass all seine harte Arbeit, seine endlosen Stunden des Tüftelns und Träumens nicht umsonst gewesen waren.

Kai atmete tief durch. Dies war der Moment, auf den er so lange gewartet hatte. Vorsichtig stieg er auf den Hover Scooter und spürte, wie die Maschine auf seine kleinsten Bewegungen reagierte. Es war, als würde das Gefährt mit ihm verschmelzen, als sei es eine Erweiterung seines eigenen Körpers. Die Knie leicht gebeugt, die Hände fest an den Griffen, ließ Kai die Kontrolle über das Gefährt in seinen Körper übergehen.

Mit einem sanften Druck auf den Steuerknüppel gab Kai dem Antrieb einen leichten Schub, und das Gefährt schoss nach vorne. Die alten Holztüren des Schuppens krachten auf, als Kai hinausflog. Er hatte Mühe auf dem Scooter stehen zu bleiben, mit so einem starken Schub hatte er nicht gerechnet. Er fang sich jedoch wieder und ein schelmisches Grinsen huschte über seine Lippen. Er hatte es geschafft.

Die kalte Abendluft schlug ihm ins Gesicht, ein berauschendes Gefühl der Freiheit erfüllte ihn, als er über den Hof des Waisenhauses flog. Die Welt unter ihm verschwamm zu einem einzigen Fleck aus Farben und Formen, während er eine weite Kurve über das Grundstück zog.

Von den Fenstern aus sahen die Kinder ihm nach, ihre Gesichter verzerrt von Erstaunen und Neid. Einige von ihnen drückten ihre Nasen gegen die kalten Scheiben, während andere wild winkten, in der Hoffnung, ein Lächeln oder ein Zeichen von Kai zu erhaschen. Doch für Kai gab es in diesem Moment nur ein Ziel: das Hauptquartier von Reece Racing, dem besten Galaxy Racer Team auf der Erde.

Das Dröhnen des Hover Scooters hallte über den Hof, als Kai auf das massive Eisentor des Waisenhauses zusteuerte. Doch bevor er das Tor erreichte, öffnete es sich und eine Frau mittleren Alters trat hindurch. Es war die Direktorin, eine furchteinflößende Frau mit einem Gesicht so kalt wie Granit und einer Stimme, die durch Mark und Bein ging. Ihr Name war in den Köpfen der Kinder gleichbedeutend mit Strafe und Disziplin. Sie war bekannt dafür, dass sie ihre Autorität mit eiserner Hand durchsetzte, und Kai hatte mehr als nur einmal ihre Strenge zu spüren bekommen.

Aber heute war alles anders. Heute würde Kai fliehen, und nichts würde ihn aufhalten können. Mit einem verschmitzten Grinsen auf den Lippen drückte Kai einen kleinen Knopf am Steuer des Scooters. Sofort erhielt das Gravitationsfeld unter dem Hover Scooter einen Schub, und Kai erhob sich mit einer sanften Bewegung in die Luft. Entsetzt blickte die Direktorin Kai nach, während er über ihr hinweg in die Freiheit flog. Als er einen letzten Blick über seine Schulter warf, sah er die Direktorin mit einem überrumpelten Gesichtsausdruck stehen, während der Staub seiner Abfahrt hinter ihm aufwirbelte.

Die Straßen zu seinem Ziel schlängelten sich noch einige Kilometer, doch Kai hatte bereits die Vororte hinter sich gelassen. Die einst gepflegten Wohngebiete wirkten nun trostlos und verlassen, als er auf seinem Hover Scooter durch die leeren Gassen raste. Die dunklen Hügel um ihn herum waren gesäumt von zerfallenden Häusern und verlassenen Geschäften, die nur noch Schatten ihrer früheren Existenz waren. Die früheren Bewohner waren schon längst in die neuen Großstädte gezogen, die nach dem Krieg errichtet wurden und so hatte die Dunkelheit die Landschaft fest im Griff während vereinzelt flackernde Laternen geisterhafte Lichter auf den Asphalt warfen.

Kai fühlte den kalten Wind, der ihm ins Gesicht schlug, spürte den leichten Widerstand der Luft gegen seinen Körper, während der Hover Scooter fast lautlos über den Boden glitt. Die Welt um ihn herum war ein verzerrter Strom aus Licht und Dunkelheit, doch sein Fokus lag einzig und allein auf dem Weg vor ihm. Die Geschwindigkeit, das Risiko, das Gefühl der Freiheit – all das verschmolz zu einem Rausch, der seine Sinne schärfte und seine Gedanken klärte. In dieser ungezähmten Flucht vor seiner Vergangenheit und der bedrückenden Realität des Waisenhauses fand Kai die Energie, die ihn weitertrieb, weiter hinaus in die Ungewissheit, die sich wie ein endloser Horizont vor ihm auftat.

Die Fahrt schien endlos, als ob die Zeit selbst aufhörte zu existieren. Kai wusste nicht genau, wie viele Stunden vergangen waren, nur dass er weitermusste, immer weiter. Sein Körper war angespannt, die Muskeln brannten vor Anstrengung, aber er ignorierte die Schmerzen. Die Augen brannten vom Wind, der in sein Gesicht peitschte, doch er blinzelte nicht. Er durfte jetzt keine Schwäche zeigen, keine Müdigkeit zulassen. Noch nicht.

Schließlich, als die Erschöpfung drohte, ihn einzuholen, entdeckte Kai eine alte, verfallene Tankstelle. Sie war ein Überbleibsel aus einer Zeit, die längst vergangen war, ein stummes Zeugnis für den Wandel der Welt. Die Zapfsäulen waren rostig und von dichten, wilden Pflanzen überwuchert, die wie die Natur selbst versuchten, das Vergangene zu verschlingen. Es war ein trostloser Anblick, doch für Kai war es ein willkommener Ort zum Anhalten.

Langsam brachte Kai den Hover Scooter zum Stehen und ließ ihn sanft neben den überwucherten Ruinen nieder. Er stieg ab, seine Beine fühlten sich schwach an, doch das konnte ihn nicht aufhalten. Er sah sich um und bemerkte einen kleinen, heruntergekommenen Kiosk am Straßenrand. Einer der wenigen Orte, die nach dem Krieg noch im Betrieb gehalten wurde, um Transportfahrern eine Pause zu gönnen. Er hatte inzwischen die Hälfte des Weges hinter sich gelassen und befand sich mitten im Nichts, zwischen seiner alten Heimatstadt und der neuen Großstadt.

Kai griff nach einem Snack, bezahlte mit den wenigen Münzen, die er noch übrighatte, und trat wieder hinaus in die kühle Nachtluft. Die Bank, auf die er sich setzte, ächzte unter seinem Gewicht, das Holz war alt und spröde, doch es hielt stand. Der Wind trug den Geruch von Regen und Rost mit sich, eine Erinnerung daran, dass die Natur sich immer ihren Weg zurückbahnte, egal wie sehr die Menschen versuchten, die Kontrolle zu behalten. Kai nahm einen Bissen von seinem Sandwich. Es war kein sonderlich gutes Essen, doch für Kai schmeckte es besser als alles, was sein Gaumen im Waisenhaus je zu spüren bekam. Kai schloss für einen Moment die Augen und ließ den Wind durch sein Haar streichen. Es war eine kurze Pause, eine Verschnaufpause vor dem nächsten Schritt auf seinem Weg.

Doch seine Ruhe wurde schnell gestört. In der Ferne hörte er das leise Summen eines Fahrzeugs, das immer lauter wurde, bis es schließlich neben der Tankstelle zum Stehen kam. Zwei uniformierte Männer stiegen aus dem Polizeifahrzeug, das in das düstere Licht der Tankstelle getaucht war. Kai zog hastig die Kapuze seiner Jacke tiefer ins Gesicht. Sein Herz begann schneller zu schlagen, eine Mischung aus Angst und Entschlossenheit durchströmte ihn. Er wusste nicht, ob das Waisenhaus bereits Alarm geschlagen hatte, aber es war sehr wahrscheinlich, dass die Behörden informiert worden waren – schließlich war er noch minderjährig, und seine Flucht würde nicht ohne Folgen bleiben.

Einer der Polizisten warf Kai einen prüfenden Blick zu, als ob er versuchte, durch die Dunkelheit in seine Seele zu blicken. Der Mann näherte sich mit gemessenen Schritten, und jeder Schritt schien das Gewicht von Kais Entscheidungen und seinen Traum mit sich zu tragen. Kai spürte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte, als der Polizist schließlich vor ihm stehen blieb. Der Polizist zog ein altes, vergilbtes Foto aus seiner Jackentasche und hielt es Kai entgegen. „Haben Sie diesen Jungen gesehen? Er soll heute aus einem Waisenhaus geflohen sein.“

Kai zwang sich, ruhig zu bleiben, obwohl ihm tausend Gedanken durch den Kopf schossen. Er tat so, als würde er das Foto aufmerksam betrachten, obwohl er wusste, was es zeigte. Das Bild war alt, er selbst darauf fast nicht mehr wiederzuerkennen – mindestens zehn Jahre mussten seitdem vergangen sein. Trotzdem schüttelte er schließlich den Kopf. „Kommt mir nicht bekannt vor“, sagte er, seine Stimme tiefer und rauer als gewöhnlich, in der Hoffnung, dass der Polizist keinen Verdacht schöpfte.

Der Polizist musterte Kai einen Moment lang, als wolle er in dessen Augen die Wahrheit erkennen. Es war, als ob die Zeit für einen Augenblick stillstand, als ob diese Sekunde sich in die Länge zog und das Gewicht der Welt auf Kai lastete. Schließlich nickte der Polizist, wenn auch zögernd, und steckte das Foto zurück in seine Tasche. „Wenn Sie ihn sehen, melden Sie sich bitte bei der Polizei.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und betrat den Kiosk, während sein Kollege draußen wartete.

Kai spürte, wie sich die Anspannung in seinem Körper löste, als der Polizist den Blick von ihm abwandte. Das Sandwich, das er fast aufgegessen hatte, ließ er achtlos fallen, während er hastig aufstand. Sein Instinkt sagte ihm, dass er so schnell wie möglich verschwinden musste, bevor die Polizisten Verdacht schöpften. Mit einem nervösen Blick über die Schulter eilte er zu seinem Hover Scooter, stieg auf und startete den Antrieb. Kaum hatte der Scooter den Boden verlassen, schoss Kai davon, den Wind in den Haaren und das Dröhnen des Scooters in den Ohren. Noch während er davonschoss, hörte er das leise Summen des Polizeifahrzeugs hinter sich, doch es kümmerte ihn nicht mehr. Er bog auf einen kleinen Waldweg ab und wartete dort, bis das Polizeiauto an ihm vorbeizog. Die Polizisten schienen jedoch nicht so, als würden sie ihn verfolgen wollen.

Mit wild klopfendem Herzen raste Kai die dunkle Straße entlang, die Sonne war inzwischen längst untergegangen, und die Silhouette der Großstadt lag nun schemenhaft am Horizont. Doch Kai wusste, dass dies erst der Anfang war. Er war noch nicht in Sicherheit, aber dieser erste Schritt war getan – der erste Schritt auf seinem Weg in die Sterne. Und nichts würde ihn jetzt noch aufhalten. Er war bereit, alle Hindernisse zu überwinden, alle Gefahren zu trotzen, um den Traum zu erreichen, der ihn antrieb wie der unermüdliche Puls des Universums selbst.

 

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