Theovin war am Ende. Geistig wie körperlich. Er erinnerte sich nicht, wann er zuletzt Scham empfunden hatte, war sein Leben doch so würdelos gewesen, aber in diesem Moment empfand er sie. Kriechend, auf dem kalten, glatten und spitz zulaufenden Gestein, fühlte er sich wie ein Sünder auf dem schmerzhaften Weg der Läuterung. Steil war gar kein Begriff für diesen Aufstieg.
Es war eine Frechheit, hier zu klettern, während die Männer unter einem pöbelten, wie langsam es voranging und jeder dem Mann vor sich die Schuld gab. Für ihn hatte es sich immer besser angefühlt, zu einem Adligen oder einer Adligen aufzublicken und zu wissen, dass jene hinabblickten, als dies mit Gleichgestellten zu erleben. Jeder in dieser Reihe aus Soldaten dachte, dass er alleine den Aufstieg besser meistern würde, wenn nur all die anderen nicht wären.
Theovin wusste, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Er selbst war sich sicher, es nicht zu schaffen. Ohne Verpflegung, welche ebenso transportiert werden musste und Männer wie Belasar, die den Weg mit Trink- und Volksliedern erleichterten, hätte er längst aufgegeben.
Der Wind wurde mächtiger und die Luft dünner. Bald schon würde man die Festung ausmachen können. Zumindest wurde so gemunkelt. Theovin wollte dem keinen Glauben schenken. Ihm war es lieber, vom Schlimmsten auszugehen. Womöglich lag hinter der Anhöhe eine weitere oder die Distanz wurde falsch eingeschätzt.
Mittlerweile hatten sich seine Hände und Füße an die Strapazen gewöhnt, während sein Rücken schmerzte, als wäre dieser von Pfeilen durchlöchert worden. Sich durchzustrecken, traute Theovin sich nicht. Anzuhalten und sich auf das Gestein zu legen, ebenso wenig. Er wollte nicht zum Gespött der anderen werden und redete sich ein, sich danach nicht mehr erheben zu können. Hätte er einmal aufgegeben, wäre es das mit ihm gewesen.
Mit einem Mal wurde es windstill und der Vernarbte stoppte. Es war ein angenehmes Gefühl. Ruhe, Stillstand, nur für einen Augenblick. Dann tat sich ein Gedanke in ihm auf. Weshalb war es so ruhig?
Als er es realisierte, zog er sich auf Anhieb hinauf, zwischen zwei Felsen und nah an den Berg heran. Theovins gesamter Körper berührte den Stein und er fühlte, wie sich sein schwaches Herz überschlug. Der Vernarbte hoffte drauf, dass er mit seiner Ahnung falsch lag.
„Was bleibst du stehen?“
„Da macht er schlapp. Na los! Du hälts uns alle auf!“
„Was ist denn da unten los?“
„Der Mann bewegt sich nicht“
Theovin wollte es ihnen erklären und begann zu sprechen.
„Deckt eu-“
Ein Rauschen, so laut, wie der Donner eines nahen Gewitters, hallte zwischen den Felsen wieder. Kalte Finger, wie von toten Seelen, welche den Vernarbten in das Reich des Vergessens zerren wollten, griffen ihn überall an seinen Gliedmaßen. Sein Körper wurde gegen den Fels hinter ihm gedrückt, während sich Theovin an eine Kante, im Stein über ihm, klammerte. Die Kleidung flatterte, Kälte schnitt in das Fleisch darunter und Böen peitschten gegen den Berg.
Dann herrschte Stille.
Der Wind blies gleichmäßig und trotzdem konnte Theovin den eigenen Atem vernehmen, wo nah war er an dem Stein. Er gab seinem Herz die Zeit langsamer zu schlagen und öffnete die Augen. Desorientiert griff er nach einer Kerbe im Berg und drückte sich mit dem rechten Bein gleichzeitig ab.
Der Mann über ihm, musste Theovin weit voraus sein. Der Vernarbte versuchte, schneller zu klettern, um zu seinem Vorgänger aufzuholen. Bis dahin hatte er verdrängt, dass Rufe ausgeblieben waren, welche ihn für sein langsames Voranschreiten verhöhnten. Nach wenigen weiteren Handgriffen musste er allerdings einsehen, dass etwas nicht stimmte.
Da war kein Mann vor ihm. Der Neugierde zuschulden wagte sich der Vernarbte, auf einer flacheren Stelle, sich herumzudrehen. Mit dem Rücken an die Felswand gelehnt sah er hinab zum Weg, welchen er erklommen hatte. Sein Blick reichte nicht weit, da er von einer dichten Nebelwand aufgehalten wurde. Etwa zehn Mann waren bis zur vollkommenen Unkenntlichkeit des Nebels, den Berg hinaufgestiegen. Jetzt war dort nur noch dunkles Gestein zu erkennen. Niemand schimpfte, nichts schepperte, nur der ruhige Wind, wehte über den friedlichen Berg.
Theovin wusste nicht, wie lange er hinabblickte und hoffte, jemanden durch den Nebel kommen zu sehen. Irgendwann hörte er auf zu hoffen, drehte sich erneut und begann wieder zu klettern. Ab diesem Zeitpunkt bekam er die erhoffte Stille und selbst der Wind war ihm gnädiger. Der Vernarbte kletterte weiter und dachte einzig und allein daran, wohin er seine Hände und Füße als Nächstes bewegen würde. Dort hin, oder lieber da hin?
Sein Zeitgefühl begann zu schwinden und die Stille wurde immer unerträglicher. Stein und mehr Stein. Stein und noch mehr Stein. Verschiedenste Grautöne verliefen an seinem Sichtfeld entlang. Es verschwamm. Theovins Augen brannten, die Kehle schnürte es ihm zu. Aber dies war bestimmt die dünne Luft und der Steinstaub. Nichts weiter.
„AAAAAAAAHHHHhhh“
Wie ein Vogel, welcher an einem Fenster vorbeihuschte, flog etwas vom Berg. Theovin sichtete es im Augenwinkel. Es geschah so schnell, dass er für einen schwerfälligen Atemzug infrage stellte, etwas gehört oder gesehen zu haben. Dann gestand er es sich ein. Ein Soldat war gestürzt.
Theovin war verwirrt und zugleich entsetzt. Nicht über den Vorfall, sondern über das, was jener in ihm auslöste. Ein groteskes, wie unpassendes Gefühl, in Betrachtung der Umstände, machte sich in ihm breit. Es war eine milde und selbstsüchtige Freude.
Weil ein Mann hinabgefallen war, bedeutete dies, dass es noch mehr geben musste. Überlebende, irgendwo über Theovin, die er erreichen konnte. Jene Vorstellung war es, die ihm Kraft verlieh.
Theovin erklomm die nächste Felsplatte.
Etwas Kaltes berührte das vernarbte Gesicht. Zuerst war es angenehm, dann ließ es ihn frösteln. Jemand wie Theovin, der im Norden aufgewachsen war, wusste die seichte Berührung des Himmels nicht zu unterschätzen.
Er fiel langsam, in reinen, eleganten Formen: Schnee galt für die meisten Hemnan als Zeichnen der Unschuld und Schönheit. Theovin wusste es besser.
Der Schneefall war nichts als weiß gefärbte Asche für all jene, die ihn nicht gebrauchen konnten. Er kühlte, bedeckte Pflanzen und versperrte den Weg. Gerade in einem Gebirge wie diesem konnte das mit dem Tod enden. Plötzlich wurde der Untergrund rutschig, Lawinen konnten sich lösen oder er kühlte den Körper herunter.
In all seiner Pracht und seinem Schrecken, legte er sich auf Theovins Kleidung nieder. Die Winde begannen zu pfeifen und der Schneefall wurde heftiger. Die ledernen Handschuhe des Vernarbten schützten nicht länger vor der Feuchtigkeit. Ihm grauste es, diese ausziehen zu müssen, damit er den Stein besser greifen konnte.
Unter all die Klänge, welche die eiskalte Luft erfüllten, mischte sich ein anderes Geräusch. Theovin blickte auf. Über ihm erkannte er eine Gestalt am Berg. Massiv und dennoch vom Schnee beinahe unkenntlich gemacht. Theovin wusste, dass dies nur Belasar sein konnte. Erneut schöpfte er Kraft aus dem versiegenden Brunnen seiner Seele.
Bald bestieg er hinter dem einzigen Mann, den Berg, der in den vielen Jahren, seitdem Theovin aus seiner alten Heimat geflohen war, einem Kameraden am nächsten kam. Er wüsste nicht, wo er ohne ihn wäre. Zwar war dieses Gebirge kein Ort, der schwer zu unterbieten war, lieber als der Tod war es Theovin aber dennoch. Vor ebenjenem hatte Belasar ihn öfter gerettet, als er wagt zu zählen.
Der Bär stammte aus dem Westen, so hatte er erzählt, nahe der mittlerweile geplünderten Lande. Dort war er als junger Mann ein Söldner geworden. Dies war, was die beiden am meisten Unterschied: Theovin war immer vor dem Krieg geflohen, während Belasar diesen - Zeit seines Lebens – umarmte. Das Schicksal oder die aberwitzigen Spiele eines grausamen Gottes, hatten sie hier zusammengeführt, vermutete der Vernarbte.
Theovin kletterte unter dem Koloss von einem Mann und versuchte etwas zu rufen, um sich erkenntlich zu zeigen, doch gab es schließlich auf. Die stürmischen Böen verschluckten jedes Wort, als würden sie eine Unterhaltung nicht dulden.
Es war gleichzeitig beruhigend wie beängstigend unter Belasar zu klettern. Er strahlte eine Gefasstheit aus und bot Schutz vor dem Schnee, dafür bedeutete der Absturz seines massiven Körpers, den jenes Unglücklichen darunter. Theovin ging vom schlimmsten aus. Er hoffte dabei, mit dem Kopf auf einem spitzen Stein aufzukommen. Mit gebrochenen Gliedern zu erfrieren, wäre der schlimmstmögliche Ausgang, wenn auch der wahrscheinlichste.