Glandera
Mit zusammengebissenen Lippen bearbeitete Glandera den Felsen. Die Arbeit fiel ihr heute leichter, denn sie hatte zwei Scheiben Brot gefrühstückt und sogar Mittagessen von Zuhause mitgenommen. Doch sie konnte sich keinen Reim daraus machen, wieso sie dieses Präsent erhalten hatte.
„Glandera? Du sollst zum Vorarbeiter kommen.“ Ein Bergarbeiterkumpel tippte ihr auf den Rücken und zeigte in Richtung Ausgang.
Freitag war Zahltag und so packte Glandera das Werkzeug in ihre Umhängetasche, streckte ihren Rücken und machte sich auf den Weg. Eine Staubwolke stob auf, als sie auf ihre Kleidung klopfte und diese vom groben Dreck befreite.
Sie stellte sich hinter ihren Kollegen an und als sie an der Reihe war, ergriff sie die Münzen. Blitzschnell packte der Vorarbeiter ihre Hand und hielt sie fest. „Wer weiß, vielleicht ersetze ich dich schon bald mit einem anderen Arbeiter.“
Trotzig entzog sie sich ihm und zählte nach. Überrascht hob sie die Augenbrauen. Sie hatte das volle Gehalt erhalten, obwohl sie gestern nicht anwesend gewesen war. Ein Kribbeln im Nacken ließ sie zittern. Dann drehte sie sich langsam um.
Abseits der Mine stand Erzmagus Ferron und blickte zu ihr. Seine Hände waren hinter seinem Rücken verschränkt. Erhaben wachte er über diesen Platz.
Glandera steckte die Münzen ein. Ein paar Schritte setzte sie ihren Weg fort, bevor sie anhielt. Sie rang mit sich selbst. Wenn der Erzmagus schon hier war, sollte sie sich bedanken. Den fragenden Blick des Vorarbeiters ignorierte sie, als sie vor Ferron stehenblieb. „Seid gegrüßt, hochgelehrter Magister.“
„Frau Berger.“ Er neigte freundlich den Kopf. Graue Augen sahen sie erwartungsvoll an.
„Habt Dank für das Brot und die Lebensmittel. Gott segne Euch.“ Statt zu ihm hinaufzuschauen, schob sie mit dem Fuß ein paar Steine über den Platz.
„Es freut mich, wenn ich Ihnen eine Freude bereiten und Ihre Sorgen mindern konnte.“
Überrascht hob sie den Kopf. „Woher wisst Ihr …?“
„Der Winter war hart und der Sommer ist zu heiß. Überall sind die Preise für Lebensmittel gestiegen, junge Frau“, er blickte sie sanft an, „und viele Familien leiden seitdem Not.“
„Ihr müsst das nicht tun.“
„Es ist mein Wunsch.“ Sein Tonfall verriet, dass er keinen Widerspruch duldete.
Sie presste die Lippen zusammen, während sie nickte, und blickte unschlüssig über den Platz. „Bitte, nennt mich Glandera, wie jeder hier. Sonst fühle ich mich alt.“
Er lächelte. „Vielen Dank, das mache ich sehr gern. Glandera, würdest du ein Stück mit mir spazieren gehen?“
Sie erstarrte. Dann schüttelte sie den Kopf und wich zurück.
Ferron bemerkte die feinen Vibrationen, als ihr Puls raste. Seine Stimme wurde sanfter. „Wir sind auf einem freien Platz und man sieht dich, während wir ein paar Schritte gehen. Wovor hast du Angst?“
Vor ihrem inneren Auge rasten Bilder an ihr vorüber. Sie nahm ihren Bruder an die Hand und rannte mit ihm durch das Unterholz, bis sie eine Höhle erreichten. Dort hielt sie ihm den Mund zu, während die Reiter der Magierakademie vorbeieilten. Fast zerriss die Erinnerung Ferrons Herz.
„Meine Mutter hat mir verboten, mit Fremden mitzugehen.“ Sie wich weiter zurück und neigte dabei ihr Haupt. „Hochgelehrter Magister.“
„Erlaube mir, dass wir uns kennenlernen, damit wir nicht mehr fremd füreinander sind.“ Zögerlich trat er einen Schritt auf sie zu. „Magier sind auch nur Menschen.“
„Tut mir leid, ich muss zur Arbeit.“ Damit drehte sie sich um und eilte zurück in die Goldmine.
Als Glandera am späten Nachmittag heimkehrte, war ein weiterer Korb mit Lebensmitteln sowie ein frisches Brot geliefert worden. Mit dem Apfel zwischen den Zähnen wühlte ihr Bruder nach Köstlichkeiten. Er biss ab und sagte kauend: „Da ist eine Schachtel drin, auf der dein Name steht.“
Die Haustür wurde geöffnet und Glandera ließ ihr Geschenk schnell in der Tasche verwinden.
Ihrer Mutter stellte den Wassereimer ab. „Ah, Liebes, du bist schon zu Hause.“
„Ja, hier ist der Wochenlohn.“ Sie legte die Münzen auf den Tisch und nahm ihr den schweren Eimer ab. „Danke Mutter, ich wasche mich schnell und helfe dir dann.“
Der Inhalt der Schachtel klapperte leicht, während Glandera die Treppen hinaufstieg. Sobald sie den Eimer in ihrem Zimmer abgestellt hatte, öffnete sie den Deckel. Ein klarer Bergkristall lag darin, etwa so groß wie ihr Zeigefinger. Vorsichtig nahm sie ihn heraus und das bekannte wohlige Kribbeln breitete sich von ihren Fingern auf die ganze Hand aus. Fasziniert drehte sie ihn und ging langsam zum Fenster. Das Licht brach sich sogleich darin und zauberte einen Regenbogen an ihre kahle Wand. Sie jauchzte vor Freude, als sie dieses Naturspektakel wiederholte und die bunten Farben durch das Zimmer wandern ließ.
Sie war sich bewusst, dass er eine Aufmerksamkeit des Erzmagus war, und versteckte ihn sorgsam unter dem Bett.